Niemand braucht eine weitere Rezension zum, wie es aussieht, Film des Jahres. Genau deshalb schreibe ich eine. Offensichtlich sind Spoiler ahead.
Joaquin Phoenix hat hier die Leistung seines bisherigen Lebens abgeliefert, darüber kann man nicht diskutieren. Ist er der beste Joker aller Zeiten? Nein, er ist der beste alternative Joker aller Zeiten. Ihn mit Heath Ledger zu vergleichen ist wie die Frage zu stellen welches der beste Wein der Welt ist und Rot- mit Weißwein zusammenzukippen. Geht einfach nicht unter zivilisierten Menschen.
Räumen wir also erstmal Heath Ledger aus dem Weg - sein Joker ist alles, was ein Antagonist im Batman-Universum sein muß: aggressiv, gleichzeitig kontrolliert, nicht les- oder vorhersehbar, intelligent, evil chaotic, mit einem Sinn für feinen, skurrilen Humor und - vielleicht die wichtigste Eigenschaft - absolut unvermeidbar.
In der 2019-Version von "The Joker" erzählt Joaquin Phoenix nun die Geschichte von Anfang an, wie aus Arthur Fleck der Mann wurde, der bunte Anzüge mit viel Clownsschminke kombiniert. Nicht nur modisch im Moment top, denn die Farben der siebziger Jahre lauern hinter jeder Ecke, das Spektrum dominiert den ganzen Film. Wir bewegen uns in einem dreckigen, abgefressenen New York Anfang der achtziger Jahre, kalt und verschmiert von Graffiti, voll der Nostalgie für vergangene Jahrzehnte, gänzlich ohne oder mit vereinzelt sehr klobig auftretender Technologie. Es wird noch mit Bleistift in Notizbücher gekritzelt und ein Anrufbeantworter ist state of the art.
Und hier ist schon ein erster Stolperstein: um es mit Garfield zu sagen, "it's all so perfectly depressing I can't wipe away the smile from my face." Ja, es ist alles zum Weglaufen, abweisend und mühsam und schneidend kalt, sowohl das Wetter als auch das menschliche Miteinander. Und trotzdem fühlt man sich sofort wohl und zu Hause. Das mag im Auge des Betrachters liegen, vielleicht bin ich selbst ja nur ein "high functioning sociopath" (Sherlock, anderes Universum), aber die warmen schwachen Sonnenstrahlen, die im Prinzip nur Winter und Hoffnungslosigkeit verströmen sollen in dieser ausweglosen Existenz des Arthur Fleck, tragen das bißchen Vertrautheit mit sich welches reicht um eine Verbindung zu Arthur und seiner gesamten Welt herzustellen. Man wird zum Komplizen.
Das ist auch nötig und nicht allzu schwierig, denn der Film bietet keinen (!) Sympathieträger, bis auf eine kleine Ausnahme, als den notorischen Spontankiller. Man leidet mit Arthur mit, man wird mit ihm geprügelt, belogen, ausgebeutet, sein ausgezehrtes Gesicht und die strähnigen, zu langen Haare, die ihn manchmal wie ein sensibles Dichtergenie aussehen lassen, all das wird zu einem selbst. Eine der eindrücklichsten Szenen der körperlichen Ausgezehrtheit zeigt seinen grotesk verkrümmten Rücken, man fürchtet daß er sich gleich einen der dürren Arme brechen wird oder die spitze Schulter auskugelt, als er im Umkleideraum seine Schuhe versucht zu dehnen und gegen das zähe, harte Leder kämpft. Ein erbärmlicher Kampf.
Doch nie begegnet dieser Arthur den Widrigkeiten seines Lebens mit Aggression, es baut sich keine Energie auf, der Weg ist ein anderer. Die Toten in der U-Bahn? Notwendig, was man angefangen hat sollte man zu Ende bringen, kontrolliert und emotionslos, für die Panik hat man danach noch Zeit. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte in Arkham zerstört den letzten Rest der Familienillusion, aber davon sind ja sowieso nur noch Trümmer übrig. Selbst als er im Krankenhaus seine "Mutter" auf der Intensivstation mit einem Kissen erstickt ist nur ein Quäntchen Rage enthalten, der Hauptteil ist Resignation und Überdruß. Es ist eine stille Metamorphose, je weiter die Handlung voranschreitet desto mehr verliert Arthur, der doch sowieso nichts hat, vom Leben. Von Verzweiflung und Wut, Resignation und Trauer laufen wir mit unserem Protagonisten direkt an den tipping point, der allzu zwingend scheint. Der Joker, Produkt seiner Umgebung.
Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn mit dieser Historie könnte Arthur auch einfach nur Selbstmord begehen und die Sache gut sein lassen. Aber da ist noch eine zweite Seele, die in ihm wohnt, und die ist zunehmend fasziniert, dann begeistert, schließlich Feuer und Flamme werden lässt für die Revolution und das Chaos, welches Arthur losgetreten hat, ohne es zu wollen. Hier sehen wir durchs Schlüsselloch einen Hauch des Mannes, der die Welt einfach nur brennen sehen will.
Aus diesem Wunsch zieht Arthur die Energie, sich immer wieder aufzuraffen und dem Lauf der Dinge entgegenzustellen. Es ist das Auf und Ab, was ihn ausmergelt, gleichzeitig aber auch "stranger" macht, und letzten Endes zur Quelle seiner Macht und Besessenheit werden wird. Der Schlag ins Gesicht von Thomas Wayne, die Bloßstellung von Murray, die Hinterlist seines Kollegen, egal was kommt, dieses Streichholzmännchen Arthur weiß genau daß es nicht recht ist und weigert sich einfach, am Boden liegen zu bleiben.
Dabei quält ihn seine eigene Psyche zusätzlich, sie sehnt sich nach einem Zuhause und Normalität, was er sich in der Beziehung zu seiner Nachbarin vorhalluziniert. Sie ist der einzige helle Punkt an diesem rabenschwarzen Horizont, und als Arthur und uns klar wird daß sie nie an seiner Seite war schlägt die Stunde vor der Dämmerung, in der es bekanntermaßen am dunkelsten ist. Nur daß später nicht die Sonne aufgeht, sondern eine Wasserstoffbombe.
Und hier schenkt der Film uns einer dieser legendären Szenen, die sich ins kollektive Gedächnis einbrennen wird, voller Elan, Schönheit und Selbstvergessenheit, zugleich böser Absicht und mentaler Krankheit. Der Joker tanzt, allein, auf der endlos langen Treppe, er feiert was er tun wird, ohne bereits zu wissen was es ist, er feiert wer er geworden ist, nun daß er alles hinter sich gelassen hat. Er ist endlich verrückt, entschlossen, frei.
Es ist ein Film für die Zeit, in der wir leben. Mindestlohn, die ständige Angst vor dem Abstieg in der zerriebenen Mittelschicht, zunehmende soziale Kälte, gepaart mit technologischer Vereinsamung und staatlich wie industriell verbreiteter Desinformation haben unsere Gesellschaft bis zu einem Grad zerstört der irreparabel scheint. An dieser Stelle war die Menschheit schon mehrfach in ihrer Geschichte. Arthur und sein Werdegang sprechen uns aus der Seele, wir stellen uns automatisch auf seine Seite und wünschen uns selbst, ein wenig "Joker" sein zu können. Nur daß es im echten Leben keine Erleichterung verschafft, denn es bringt nichts, die Welt anzuzünden, wenn man später noch drin leben will.
Hier liegt die finale Schwäche oder die raffinierte Stärke des Films, und darüber lohnt es sich nachzudenken. Es erfolgt keine Katharsis. Der Joker wird nicht geläutert, wir werden es aber auch nicht. Bis zum Schluß fiebern wir für ihn mit und alle seine Handlungen erscheinen logisch und - und das sollte das Schockierende sein - angemessen. Sein letzter Mord im Film ist an der Therapeutin, mit der er in der Geschlossenen seine Heilung finden soll, sein letzter Akt die Slapstick-Einlage, wie er mit den Wärtern Fangen spielt und dabei blutige Schuhabdrücke im Weiß des Krankenhausflurs hinterlässt. Es widert uns nicht an. Wir wenden uns nicht erschrocken ab. Es findet keine Distanzierung zum Mörder statt. Der Film erzählt vordergründig die Geschichte des Joker. Im Hintergrund ist es ein Aufruf zur Brandstiftung.